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Rollstuhlversorgung bei Adipositas: Mittel zum Zweck oder Selbstzweck

Adipositas wird oft als Resultat eines ungesunden Lebensstils erachtet, nicht als ernsthafte Erkrankung. Dadurch sind viele Betroffene gehemmt und...

Rollstuhlfahrer
© Marcus Aurelius | Pexels

„Wenn sie einen Rollstuhl bekommen, bewegen sie sich ja noch weniger!“ 

Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist auf keinen Fall meine Meinung. Es scheint aber die gängige Ansicht in der Bevölkerung und leider auch in einigen fachlichen Kreisen zu sein, wenn ich unsere Recherche zu dem Thema „Wie können wir Rollstühle für Adipositas-Versorgungen besser machen?“ richtig deute.
Antwort auf genau diese Frage war nämlich: „Gar nicht. Wir müssen diese Personen motivieren und anleiten, ihre Lebensumstände und ihr Ess- und Bewegungsverhalten so verändern, dass sie abnehmen und aktiver werden. Hierfür ist eine Versorgung mit einem Rollstuhl eher kontraproduktiv.“

Die Frage, die ich mir in dem Moment gestellt habe, war: „Kann man eine solche Attitude vertreten?“ 

(Harald Sieweke, Physiotherapeut und Medizinprodukteberater der Meyra GmbH)

Definition Adipositas:
Ein über das Normalmaß hinausgehendes Körpergewicht, verursacht durch einen zu hohen Fettanteil. Dem Körper wird mehr Energie zugeführt, als er verbrauchen kann. Als Richtwert für die Ausprägung dient der Body Mass Index (BMI) - eine Adipositas liegt nach Klassifizierung der WHO ab einem BMI von 30 kg/m² vor. Einen BMI-Rechner finden Sie z. B. hier: Adipositas-Rechner

Körperliche und psychische Leiden bei Adipositas

Adipositas wird oft als Resultat eines ungesunden Lebensstils erachtet, nicht als ernsthafte Erkrankung. Dadurch sind viele Betroffene gehemmt und nehmen Hilfeleistungen weniger in Anspruch. 

In Abhängigkeit der Fettverteilung entstehen durch steigendes Übergewicht jedoch verschiedene gesundheitliche Folgeproblematiken:

  • Extreme Kurzatmigkeit und Tendenz zu Lungen- und Bronchialerkrankungen
  • Herz-Kreislauf-Probleme
  • Vorzeitiger Gelenkverschleiß/Arthrose und Schmerzen in den unteren Extremitäten und der Wirbelsäule
  • Durchblutungsstörungen wie Venen-Erkrankungen, Thrombose, Ödeme (vorwiegend vermehrte Wasseransammlungen in den Beinen)
  • Dekubitus-Gefährdung/Druckgeschwüre und Hautdefekte aufgrund von Stauungswärme und Feuchtigkeit im Bereich der Hautlappen 
  • Hormonelle Störungen

 

Nicht nur körperlich, auch das allgemeine Wohlbefinden wird gemindert. 
Viele Personen verlassen über einen langen Zeitraum kaum ihr Wohnumfeld. Zum einen aufgrund der gesundheitlichen Probleme des Herz-Kreislaufsystems und des Bewegungsapparates. Zum anderen aber auch aus Scham aufgrund von Stigmatisierung und Ausgrenzung; ein Zustand, der zu Stress und psychischen Erkrankungen (z. B. Depressionen) führen kann.

Effektive Behandlung bei Adipositas

Es gibt Wege, adipöse Menschen unter „Abnahme der Schwere“ aktiv zu trainieren.

Bewegungsbad: Mittlerweile gibt es die unterschiedlichsten Therapie- und Fitnessangebote, die im Wasser durchgeführt werden. Im Wasser wirkt nur 1/6 des Körpergewichts auf die Gelenke und zusätzlich wird durch den hydrostatischen Druck der Lymphabfluss, venöse Rückstrom und Stoffwechsel angeregt. 

Bewegungstrainer: Spezielle Ausdauertrainingsgeräte trainieren im Sitzen die Beine und Arme, ohne dass das Körpergewicht die Gelenke belastet oder Stöße auf die Gelenke einwirken. Teilweise sind diese Geräte sogar motorisch unterstützt, um die Bewegungen am Anfang zu erleichtern bzw. eine längere Trainingsdauer zu erreichen.

Spezielle Trainingsgeräte: Die medizinische Trainingstherapie hat sich in den letzten Jahren sehr stark weiterentwickelt. Viele Therapeuten und spezielle medizinische Trainingszentren bieten Training an Kraft- und Ausdauergeräten an, die speziell für Trainierende mit Handicap, Gelenkschäden und verminderter allgemeiner Kraft konzipiert sind. Dies erfolgt in der Regel unter therapeutischer oder sportwissenschaftlicher Leitung mit spezieller Ausbildung. 

Bei anhaltender oder während eines längeren Zeitraums verminderter Gehfähigkeit müssen die Personen erst einmal die Stätten der Behandlungsangebote erreichen können. Zudem müssen sie motiviert sein, den Rest ihres Alltags aktiver zu gestalten. Die alltägliche Bewegung fällt ihnen schwerer als Normalgewichtigen. Um die Agilität dennoch zu erhöhen, sind Hilfsmittel ein wichtiges Instrument und bieten ein gewisses Maß an Hilfe zur Selbsthilfe.

Der Rollstuhl als Fortbewegungshilfe

Ein passender Rollstuhl als Hilfsmittel zur Steigerung der Mobilität gibt einem adipösen Menschen die Möglichkeit, sich im Wohnumfeld frei zu bewegen, eine Therapie zu besuchen, zu Sportangeboten zu gelangen und im Alltag weitestgehend selbstständig zu bleiben. Bereits ein bisschen Mehr an Bewegung im Alltag wirkt sich positiv auf das Herz-Kreislauf-System aus und wirkt obendrein motivierend.

Ein Rollstuhl entlastet die ohnehin schon schmerzenden Knie, Füße, Hüftgelenke und Wirbelsäule. Viele Betroffene selbst erkennen erst spät, dass ihre Mobilität sich sukzessive verschlechtert hat und sie bereits mit degenerativen Gelenkproblemen konfrontiert sind. In der Folge werden Hilfsmittel vergleichsweise spät in Anspruch genommen. 

Dies führt zu den Schlüsselgedanken bei der Rollstuhlversorgung für adipöse Menschen:

  • Mobilisierung durch einen Rollstuhl zur Erreichung persönlicher/therapeutischer Ziele
  • Zeitweise Entlastung der Gelenke und der Wirbelsäule
  • Förderung der selbstständigen, eigenverantwortlichen Lebensführung und damit Motivation zur Veränderung der Lebensumstände
  • Selbstbestimmte Teilhabe im Alltag

Beweglichkeit ist Lebensqualität: manueller/elektrischer Rollstuhl

Ob manuell oder elektrisch, der Rollstuhl muss genau auf die Anforderungen und Bedürfnisse des jeweiligen Patienten angepasst werden, um die Mobilitätsleistung zielführend zu unterstützen. Dabei ist die Fettverteilung am Körper zu beachten. 

Grob unterscheidet man zwei Körperformen bei der Adipositas. Die sogenannte Birnen- und Apfelform verbildlicht dies in groben Zügen: Der feminine (gynoide) Typ tendiert zu vermehrter Fettanlagerungen im Bereich des Unterhautfettgewebes an Oberschenkeln und Gesäß, der maskuline (androide) Typ zeigt vermehrte Fettanlagerung im Bauchraum und um die Organe (Viszeralfett). Die richtige Passform bedingt die Bedienbarkeit des Rollstuhls.
 

Durch manuell bzw. elektrisch verstellbare Rücken-, Bein- und Kantelpositionen können verschiedene Bereiche des Körpers entlastet werden, diese Einstellungen können auch Lymph- und Blutkreislauffördernd genutzt werden. 

Manueller Rollstuhl: Diese Rollstühle versprechen vermeintlich mehr Aktivität für den Nutzer, da man sich über die Greifreifen bzw. trippelnd (sitzend mit beiden Beinen) darin fortbewegt. Die selbstständige Fortbewegung, ob über die Arme oder die Beine, ist ab einer gewissen Gewichtsklasse und Sitzbreite jedoch sehr herausfordernd. Zusätzlich erhöht sich die Gesamtbreite durch die Greifreifenräder. Eine solche Versorgung sollte man gut abwägen und ggf. im Vorfeld testen. Es macht auch Sinn, sich in diesem Bereich mit einem Multifunktionsrollstuhl auseinanderzusetzen.

Elektrorollstuhl: Wenn ein Nutzer sich in einem manuellen Rollstuhl nicht mehr selbstständig (um)positionieren kann (d. h. elektrische Verstellungen notwendig sind) und gleichzeitig die eigenständige Mobilität in einem manuellen Rollstuhl im häuslichen Umfeld nicht mehr gewährleistet ist, sollte auf einen Elektrorollstuhl zurückgegriffen werden. Hiermit können sich adipöse Personen eigenständig bewegen und positionieren. Zusätzlich wird die eigenständige Mobilität über das häusliche Umfeld hinaus gesteigert, um Therapien in Anspruch zu nehmen oder Aktivitäten des täglichen Lebens, die als Grundbedürfnisse gelten, wahr zu nehmen.

Für all diese Entscheidungskriterien stehen Ihnen speziell geschulte Berater in den Sanitätshäusern und im Reha-Fachhandel zur Seite, die neben der Einstellung am Hilfsmittel auch Ihr häusliches Umfeld berücksichtigen und Hindernisse, Türbreiten usw. mit in Betracht ziehen, um die Versorgung zweckdienlich auszurichten.

Nachsatz:

Wir werden nachhaltig keinen Erfolg erzielen können, wenn Übergewichtige erschwert Rollstühle verschrieben kommen und auf dem Weg zur Gewichtsreduzierung ihre Gelenke ruinieren. Wie aktiv und motiviert werden sie sein können, wenn sie nach 50 kg Gewichtsreduktion wegen Gon- und Coxarthrose weiterhin gehandicapt sind. Lassen Sie uns gemeinsam, interdisziplinär und nachhaltig daran arbeiten, Menschen mit Adipositas zu einem mobileren, gesünderen und lebenswerteren Leben zu verhelfen. Hierfür müssen wir jedoch alle die „gleiche Sprache“ sprechen. Nutzer, Betroffene, Angehörige, Pflege und Therapie, Fachhandel, Kostenträger, Medizin und Industrie.

Oft ist es nicht der Unwille, sondern fehlende oder fehlerhafte Kommunikation über Ziele und Möglichkeiten. Sehen Sie meinen Artikel als ersten Schritt, dies zu verbessern. 

 

Ein Gastbeitrag in Zusammenarbeit mit Harald Sieweke, Physiotherapeut und Medizinprodukteberater der Meyra GmbH.