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Wir lassen Sie nicht sitzen! Gedanken zur Stehrollstuhlversorgung

Die Versorgung mit einem Stehrollstuhl weist zahlreiche positive medizinische, soziale und psychische Vorteile auf.

© Meyra GmbH

Der Mensch ist für Bewegung und Dauerbelastung konstruiert (Laufen, Gehen, Stehen)...

Der menschliche Körper hat sich in 30.000 Jahren stetig angepasst. Sämtliche körperlichen und sogar mentalen Funktionen unseres Körpers haben sich auf unsere heutige Körperhaltung hin entwickelt. Gelenke, Muskeln, Bänder, innere Organe, Verdauung und Atmung sind eng an diesen Bauplan unseres Körpers gekoppelt. Dauerhafte Abweichungen von diesem Bauplan führen zwangsläufig zu körperlichen Problemen und zu Fehl- und Überbelastungen in unserer Physiologie.

Neuste Studien1 der Weltgesundheitsbehörde (WHO) belegen, dass durch zu viel Sitzen mittlerweile annähernd so hohe Kosten für unsere Gesundheitssysteme entstehen wie durch das Rauchen. Erfreulicherweise investieren Krankenkassen und Versicherungen in Maßnahmen, um dem entgegenzuwirken. Auch die betriebliche Gesundheitsförderung unterstützt Mitarbeiter mit vorwiegend sitzender Tätigkeit bei der Anschaffung von Schreibtischen bzw. Schreibtischaufsätzen, die es dem Mitarbeiter ermöglichen, Arbeiten auch im Stehen zu verrichten.

Multifunktionsrollstühle mit Liege- bzw. Stehfunktion

Wie sieht es aber bei Menschen aus, die krankheits- oder behinderungsbedingt dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen sind? 

Multifunktionsrollstühle mit Liege- und/oder Stehfunktion ermöglichen durch den Positionswechsel eine Entlastung der betroffenen Körperbereiche, fördern zudem die Atmung, das Kreislaufsystem sowie die Verdauung. Nicht zuletzt begünstigt die Stehfunktion die soziale Teilhabe. Zahlreiche Studien2 zum Thema „Stehen im Rollstuhl“ belegen positive medizinische, soziale und psychische Vorteile einer Versorgung mit einem Stehrollstuhl.

Patient:innen, Pflegepersonal, Ärzt:innen und Therapeut:innen berichten und dokumentieren die Verminderung von Folgeerkrankungen wie Lungeninfektionen aufgrund verminderter Ventilation, Kontrakturen, Herz-Kreislaufinsuffizienz, Stoffwechsel- und Ausscheidungsproblemen, die durch dauerhaftes Sitzen im Rollstuhl hervorgerufen werden.

639 an der Körperhaltung beteiligte menschliche Muskeln sind nicht für dauerhaftes Sitzen gemacht

40 % dieser Muskeln sind sogar bewegungspflichtig. Ist das nicht gewährleistet, atrophieren, verkürzen, verkrampfen und/oder schmerzen sie.

Ein Großteil unserer inneren Organe ist funktionell auf die Vertikalisierung unseres Körpers angewiesen. Atmung, Stoffwechsel, Blutkreislauf, Blutdruckregulierung, Verdauung und Ausscheidung können durch dauerhaftes Sitzen extrem beeinträchtigt werden. Insbesondere bei Erkrankungen und Behinderungen, bei denen diese Funktionen durch die Grunderkrankung schon beeinträchtigt sind, ist es extrem wichtig, auch mit der Hilfsmittelversorgung entgegenzuwirken.


Aus diesem Grund ist es mir rein therapeutisch ein wichtiges Anliegen, dass die Beantragung und Versorgung mit einem multifunktionalen Elektrorollstuhl (Sitzen, Stehen, Liegen) von den Kostenträgern erleichtert wird. In anderen Bereichen der Gesundheitsvorsorge gilt es als unumstößlicher Fakt, dass dauerhaftes Sitzen eine solch hohe Gefahr für die Volksgesundheit und das Gesundheitsbudget darstellt“,
erklärt Harald Sieweke, Physiotherapeut und Medizinprodukteberater der Meyra GmbH.


 

Mit zwei Beispielen soll dies verdeutlicht werden

Atmung:

Unsere Atmung wird maßgeblich durch das Zwerchfell und die Interkostal Muskulatur (Zwischenrippenmuskulatur) bestimmt. Durch Anspannen und Entspannen dieser Muskeln entsteht ein Unterdruck in der Lunge, über den wir einatmen bzw. ausatmen. Ist diese Muskulatur durch eine Erkrankung (z. B. ALS, Duchenné Muskeldystrophie) geschwächt oder wird sie durch äußere Faktoren behindert (z. B. massive Skoliosen), kann die Lunge nicht mehr ausreichend ventilieren und es kommt zu Sauerstoffmangel im Blut. Parallel kann nicht genügend Kohlendioxid abgegeben werden. Gleichzeitig schafft diese mangelnde Ventilation der Lunge den idealen Nährboden für schwere Infektionen, da Sekret und aspirierte Flüssigkeiten bzw. Nahrungsbestandteile nicht effektiv abgehustet werden und sich parallel in den wenig belüfteten Lungenbereichen Krankheitserreger und andere Keime ungehemmt vermehren können.

Wie hilft uns aber das Stehen die Atmung zu verbessern? Im Sitzen besteht im Bauchraum ein erhöhter Druck durch eine Verlagerung aller inneren Organe etwas nach oben. Ein gesundes Zwerchfell kann gegen diesen erhöhten Druck arbeiten, wenn jedoch das Zwerchfell durch die Grunderkrankung bereits geschwächt ist, schafft es dies nicht mehr. Durch ein Strecken des gesamten Körpers im Liegen wird dieser erhöhte Bauchrauinnendruck bereits verringert, hier muss sich jedoch die Bauchdecke gegen die Schwerkraft heben. Im Stehen verlagern sich durch Hilfe der Schwerkraft die inneren Organe nach unten und schaffen Platz für die Zwerchfelldynamik, sodass leichter eingeatmet werden kann. Dies ist durch einschlägige Studien3 belegt und hilft vielen Betroffenen, über einen langen Zeitraum von externer Beatmung unabhängig zu bleiben. Die Unterstützung der Arme durch optimal positionierte Armlehnen beim Stehen hilft zusätzlich bei der Aktivierung der interkostalen Muskulatur, was die Atmung noch weiter vertieft.

Kontrakturen:

Wie bereits erwähnt, sind viele unserer Muskeln und Gelenke bewegungspflichtig. Das heißt, wenn sie nicht im vollen Bewegungsumfang bewegt werden, stellen sich funktionelle Probleme ein: das Ergebnis sind verkürzte Muskelfasern, Gelenkkapseln, Sehnen und Bänder verkleben und verwachsen miteinander, was zu einer starken Bewegungseinschränkung und Schmerzen führt (der Körper registriert durch seine sensiblen Fasern diesen unnatürlichen Zustand und meldet dies in Form von Schmerz). Diese Verwachsungen können später nur durch sehr aufwendige, teure Operationen wieder gelöst werden.

Gerade bei Krankheitsbildern, bei denen es aufgrund von Spastiken (willentlich nicht beeinflussbare erhöhte Grundspannung der Muskulatur) zu Muskelverkürzungen kommt, ist die Gefahr von Kontrakturen, bedingt durch langes Sitzen, extrem erhöht. Funktionell kann dem sehr gut durch selbstständiges Einnehmen einer gestreckten liegenden bzw. stehenden Position vorgebeugt/entgegengewirkt werden. Krankheitsbilder, bei denen es zu diesen massiven Kontrakturen nicht zuletzt aufgrund von spastischen Mustern kommen kann, sind u. a. Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Multiple Sklerose (MS), Cerebralparese (CP), Muskeldystrophy Duchennè und Querschnittlähmungen. Wichtig ist hierbei zu erwähnen, dass es für viele Nutzer:innen mit genannten Krankheitsbildern und Behinderungen vorteilhaft bzw. sogar zwingend notwendig, ist über eine liegende Position ins Stehen zu kommen. Durch diesen Zwischenschritt, werden die betreffenden Gelenke, Sehnen und Bänder ohne (Gewichts-)Belastung in eine gestreckte Position gebracht, was Verletzungen und Schmerzen vorbeugt. Danach kann der Körper ohne Gelenkdynamik so weit vertikalisiert werden wie es toleriert wird.

Ob ein multifunktionaler Elektro-Rollstuhl infrage kommt (und in welcher Ausführung) hängt von den körperlichen Fähigkeiten sowie des Wohnumfeldes ab. Geschulte Physiotherapeut:innen und die erfahrenen Expert:innen im Sanitäts- und Rehafachhandel können Sie zu diesem Thema fundiert beraten und bieten natürlich auch Erprobungen der infrage kommenden Modelle an.


Quellen:
1 A. López-Valenciano, X. Mayo, G. Liguori, R. J. Copeland, M. Lamb & A. Jimenez - Changes in sedentary behaviour in European Union adults between 2002 and 2017, unter https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-020-09293-1#Sec6 (abgerufen am 07.12.2021).
S. Kwok, L. Harvey, J. Glinsky, J.L. Bowden, M. Coggrave und T. Tussler – Does regular standing improve bowel function in people with spinal cord injury? A randomized crossover trial – Spinal Cord (2015) 53, 36–41.
Brigitta Nordström, Annika Näslund, Margareta Eriksson, Lars Nyberg, Lilly Ekenberg – The impact of supported standing on well-being and quality of life – Physiotherapy Canada (2013), 65, Nr. 4, 344–352.

Ein Gastbeitrag in Zusammenarbeit mit Harald Sieweke, Physiotherapeut und Medizinprodukteberater der Meyra GmbH.